Der Chairside Schwindel oder:
Macht demnächst die Zahnarzthelferin Ihre Zähne?
Veröffentlicht am November 8, 2017 von Rainer Ehrich im Padento-Blog
Mit „Chairside“ sind kleine Fräs-Computer gemeint, die neben dem Zahnarztstuhl stehen und der Zahnarzt sofort Ihren Zahnersatz herstellen kann. Die Versprechungen und Vorteile für den Patienten sind vollmundig und hören sich klasse an:
- Weniger Sitzungen (Termine) beim Zahnarzt
- Kein „normaler“ Abdruck mehr, somit auch kein Würgereiz
- Zahnersatz To Go in kurzer Zeit
Das sind Argumente, die gerade bei Angstpatienten und Menschen mit wenig Zeit sehr vielversprechend sind. Das sind auch Tatsachen, die stimmen und für viel Euphorie unter Zahnärzten und Patienten gesorgt haben. Allerdings gibt es auch gravierende Nachteile von Chairside-Behandlungen, die ich in diesem Artikel einmal aufzeigen und Sie zum Nachdenken anregen möchte. Entscheiden müssen Sie am Ende immer selbst, welchen Weg Sie beim Zahnersatz gehen.
Macht der Computer eine Krone von ganz alleine?
Das digitale Zeitalter bietet heutzutage viel mehr Möglichkeiten in allen Bereichen. Natürlich auch bei der Herstellung von Zahnersatz. Computer, sogenannte CAD/CAM Anlagen, sind heute in der modernen Zahntechnik nicht mehr wegzudenken und unterstützen den Zahntechnikermeister im gewerblichen Dentallabor bei der täglichen Arbeit. Nichtsdestotrotz gehört immer noch sehr viel zahntechnisches Wissen und vor allem Können dazu, mit diesen Maschinen richtig umzugehen. Auch die Handarbeit des Zahntechnikers ist nach wie vor extrem wichtig, um den vom Computer gefrästen Zahnersatz so fertig zu stellen, dass dieser auch eine Top-Qualität hat. Letztendlich ist die Maschine nur ein Werkzeug und nur so gut wie sein Bediener.
Wer die Arznei verordnet, sollte sie nicht selber herstellen
Sie kennen vielleicht das Sprichwort. Vor allem Ärzte tragen als Mediziner eine große ethische Verantwortung gegenüber ihren Patienten. Durch den Einzug der Digitalisierung in der Dentalbranche sind auch einige Zahnärzte auf den Geschmack gekommen, mit CAD/CAM Anlagen den Zahnersatz ohne den Zahntechnikermeister herzustellen. Das heißt für den Zahnmediziner: Mehr Gewinn.
Nun ist der Zahnarzt schließlich nicht nur Mediziner, sondern auch Unternehmer und ist verpflichtet, in seiner Tätigkeit als Zahnarzt auch Gewinne zu machen. Allerdings ist er kein Zahntechniker und hat vielleicht das Wissen, aber nicht das Können, Kronen, Brücken oder große Kombi-Arbeiten zu fertigen. Letzteres kommt durch kontinuierliche Übung und ständige Fortbildungen. Das ist der Job der Zahntechniker. Letztendlich ist davon auszugehen, dass das Ergebnis des Zahnersatzes durch einen Zahntechniker immer besser ist.
Monetik vor Ethik
Es gibt immer diesen Beigeschmack, wenn der Auftraggeber gleichzeitig der Auftragnehmer ist. Nun werden den Zahnärzten seitens der Industrie CAD/CAM Anlagen schmackhaft gemacht, dass hiermit sehr viel Gewinn zu erzielen sei. Und das stimmt auch, das ist gar keine Frage. Das ist für einen Zahnarzt natürlich sehr verlockend, wenn er anhand eines Online-Ertragsrechners einer großen Chairside Firma die Gewinne anhand von Schiebereglern ausrechnen kann. Da stellt sich natürlich die Frage, ob hier die Versorgungsqualität des Patienten oder das Wohl des Zahnarztes im Vordergrund steht. Schließlich müssen sich die 86.000 € Anschaffungskosten auch rentieren.
Schauen Sie selbst in nebenstehenden Video: Der Chairside Schwindel – Padento
Macht die Zahnarzthelferin bald Ihren Zahnersatz?
Nicht schon genug, dass jetzt der Zahnarzt als Mediziner den Zahnersatz selber herstellt. Es gibt neuerdings an der DDA in Berlin Wochenend-Crashkurse für Zahnarzthelferinnen, um ebenfalls an den Chairside Anlagen Zahnersatz herzustellen. Ich habe großen Respekt vor der Arbeit Zahnmedizinischer Fachangestellten und deren Arbeit. Aber Zahnersatz gehört nun mal nicht zu deren Kernkompetenzen. Und die Versprechen der Industrie, das gehe jetzt alles ganz einfach, ist natürlich auch ein Schlag ins Gesicht für jeden Zahntechniker, der dafür sehr viele Jahre gebraucht hat. Auch wenn sich die Zahnmedizinischen Fachangestellten nach dem Kurs CAD/CAM Assistenz nennen dürfen, wird dadurch die Fähigkeit für zahntechnische Arbeiten nicht besser.
#5 Die technischen Unterschiede verschiedener CAD/CAM Anlagen
Wie wir festgestellt haben, liegt der große Unterschied zum einen in dem Menschen, der solche Maschinen bedient und zum anderen liegt es aber auch an den Maschinen selber. Als Patient können Sie heutzutage auch auf einen herkömmlichen Abdruck in den meisten Zahnarztpraxen verzichten. Dort wird Ihre Gebiss-Situation abgescannt und der Datensatz landet dann idealerweise beim Zahntechnikermeister in einem gewerblichen Dentallabor. Hier fertigt jetzt nicht nur der absolute Profi für Zahnersatz Ihre neue Zähne, hier stehen definitiv auch andere Maschinen, als die für Zahnarztpraxen ausgelegten Chairside-Modelle.
Da ich bei den technischen Unterschieden nur bedingt Ahnung habe, habe ich mir Sven Bolscho als absoluten Experten für ein paar wichtige Infos für diesen Artikel hinzugezogen. Er ist nicht nur Zahntechniker, sondern auch noch gelernter Zerspanungs-Mechaniker. Einer, der sich wirklich auskennt.
Sven Bolscho schrieb mir Folgendes:
• Chairside Maschinen haben eine rechnerische Wiederhol-Genauigkeit von +-0.25mm=Gesamtes Toleranzfeld 0,05mm.
• Sie wiegen nur um die 40-50 Kilo und haben dadurch bedingt einen sehr instabilen Aufbau, welches noch einmal dazu führt, dass die Genauigkeit sich verschlechtert.
• Dazu kommt, dass diese Maschinen überwiegend „Schleifen“ und die Schleifkörper recht schnell verbraucht sind.
• Was wiederum zu erhöhtem Kraftaufwand führt, was wiederum durch die fragile Bauweise nicht aufgefangen werden kann und die Genauigkeit noch mehr sinkt.
• Softwareseitig gibt es kein Kontrollmittel der Maschine, außer die internen Zähler der Maschine, die erfassen könnten, dass das Werkzeug vielleicht kaputt ist.
• Thermische Stabilisierung der Maschine ist gar nicht vorhanden.
• Der gesamte Aufbau ist Blech und Aluminum.
• Im Vergleich dazu wiegt eine Inhouse Laboranlage mittlerer Qualität um die 150Kilo. (Entspricht Zubler DC1/Imes Icore 350i, die am meisten verbreiteten Maschinen im Markt)
• Wiederhol-Genauigkeiten von +-0,005mm =Toleranzfelder von max. 0,01mm.
• Sie besitzen leistungsstarke Antriebe mit 2-phasigen Messsystemen, massive und steife Maschinenaufbauten aus Stahl/Mineralguss und sind dadurch extrem verwindungssteif und haben hohe Kraftreserven.
• Sie sind vermessen und bieten die Möglichkeiten, jederzeit Zugriff erfahrener Techniker zu haben, die die Qualität regeln und beeinflussen können.
• Industrie Anlagen mit 3-6 Tonnen Gewicht, wie sie bei uns im Labor eingesetzt werden, bieten eine absolute Wiederholgenauigkeit von 0,002mm und werden von Experten bedient, die mit den extrem leistungsstarken Steuerungen Ergebnisse erzielen können, die keine Chairside Maschine erreichen kann.
Was könnte die Indikation von Chairside sein?
Wenn die Chairside-Industrie den Zahnärzten Preise für Chairside gefertigte Kronen empfiehlt, die zwischen 350 – 500 € für monolithische Kronen deutlich höher als in gewerblichen Dentallaboren liegen, ist die Philosophie von Chairside definitiv zu hinterfragen. Ein Zahnarzt hat durch seine Tätigkeit einen deutlich höheren Stundenkostensatz als ein selbstständiger Zahntechnikermeister. Es kann sich für ihn gar nicht rechnen, selber Zahnersatz herzustellen. Deswegen muss er entweder überhöhte Preise für einfach gefräste monolithische Kronen nehmen oder das Feld der Konstruktion der Zahnarzthelferin überlassen. Beides kann nicht gut sein für den Patienten. Chairside hat für mich eine sehr gute Indikation für provisorische Kronen und Brücken. Die Maschinen sind für solche Indikation bestens ausgerüstet. Sie sind dann allerdings nur viel zu teuer, weil der Ertrag natürlich anders ausschaut. Einige Labore haben mir ein paar Bilder überlassen, wo Kronen und Teilkronen mit Chairside gefertigt wurden. So etwas liegt im Übrigen nicht am Gerät, sondern am Anwender.
Fazit
In Zeiten, wo alle Menschen Ihren Kaffee oder Ihre Pizza TO GO haben wollen, verhält es sich beim Zahnersatz vielleicht etwas anders. Der Wunsch ist da, aber die Resultate lassen aus Zahntechniker-Sicht sehr zu wünschen übrig. Zahnarzt und Zahntechniker sind zwei völlig unterschiedliche Berufe mit einem Ziel: Dem Patienten die bestmögliche Arbeit zukommen zulassen. Damit meine ich die für das jeweilige Budget des Patienten bestsitzende Arbeit. „Schuster, bleib bei deinen Leisten“ hat auch heute noch Gültigkeit. Zahntechniker beschleifen ja auch keine Zähne. Die Berufe und deren Kompetenzen sollten ganz klar getrennt sein. Eine paar Zahntechniker forderten vor kurzer Zeit mehrere 1000 Zahnärzte auf Facebook auf, eine Art Challenge auszutragen: Meisterkrone gegen Chairside-Krone. Ergebnis: Kein Zahnarzt hat sich gemeldet. Vielleicht verständlich. Zahntechniker hätten ja auch keine Chance in einer Wurzelresektions-Challenge gegen Zahnärzte…
Autor Rainer Ehrich
Rainer Ehrich, Erfinder der TEK-1 Prothese und ehemaliger Dentallaborbesitzer, will mit Padento Menschen helfen, fair und transparent zum Thema Zahnersatz beraten zu werden.
Bericht mit freundlicher Genehmigung vom Padento-Blog